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Eine Wanderung auf Seumes Weg als Bekenntnis zu einem modernen Europa

von Eric Pawlitzky

Was kann einen über Sechzigjährigen bewegen, eine Wanderung von mehr als 2.000 km quer durch Europa anzutreten? Noch dazu Großteils auf Wegen, die jeder gewöhnliche Tourist vermeiden würde?

Es ist vor allem Neugier. Da stand zunächst die banale Frage, ob ich die Strecke physisch überhaupt durchhalte. Ja, das habe ich geschafft, aber die Physis war nicht das wirkliche Problem. Das Problem war, sich täglich neu aufzuraffen, auch wenn es in Strömen regnete. Das Problem war, dass man abends nicht nett im Café oder Restaurant saß, sondern Bilder nachbearbeitete, Tagebuch schrieb, das Quartier für den nächsten Tag klarmachte, die Strecke plante, Emails beantwortete, telefonierte und Wetterberichte las, Klamotten wusch, Füße und Schuhe pflegte. Selten war da vor 23 h Feierabend.

Dann möchte man den praktischen Beweis antreten, dass Seume einen großen Teil des Weges tatsächlich gelaufen sein könnte. Auch das ist mir gelungen.

Für mich war jedoch der größte Antrieb die Neugier auf ein Europa abseits der Reiseführer. Seumes Weg war der Zufallsgenerator, der das Bereisen mir bis dato weitgehend fremder Landstriche provozierte.

Seumes Werk, Seumes Leben sind aber auch eine hervorragende Projektionsfläche für Haltungen, die mir als bekennendem Europäer wichtig sind.

Seume war ein erklärter Demokrat, ein praktizierender Verächter des plumpen Nationalismus, ein scharfer Kritiker der Monarchen und des Klerus und nicht zuletzt bekennender Atheist. Vor allem aber war er Humanist, ein Mensch, der in der Begegnung mit denen, die am unteren Rand der sozialen Hierarchie stehen, nie Scheu zeigte, sondern immer Respekt, aufrichtiges Interesse.

Genau diese Haltung ist interessant, in einer Zeit, in der es immer wieder Versuche gibt, gesellschaftliche Konflikte vor allem auf die Schultern derjenigen abzuwälzen, die fern jeder Macht sind und deren Freiheit vor allem darin besteht, nichts zu besitzen und nichts verlieren zu können, die beim Überqueren von Meeren und Flüssen sogar den Verlust des eigenen Lebens in Kauf nehmen.

Für mich ist eine Form des Reisens wichtig, bei der ich nicht geleitet werde von Prospekten der Tourismusindustrie, zu deren Geschäft es gehört, den Blick zu verstellen vor all den Dingen, die man als unangenehm empfinden könnte.

Als Fotograf ist das eine hervorragende Übung: die Welt zu sehen mit dem „democratic vew“ wie ihn William Eggleston forderte: den Blick, der vorbehaltlos nach dem grafisch Interessanten, dem Schönen sucht, auch da, wo man es nicht vordergründig erwarten dürfte.

Und es stellt sich überhaupt die Frage nach dem „Schönen“, denn nach Lucius Burkhardt gibt es „die schöne Landschaft“ nicht, das, was wir als „schön“ bezeichnen, ist eine soziale Prägung unseres Sehens. Der Landschaft selbst ist es im Unterschied zu einer Vielzahl von Frauen oder Männern egal, ob wir sie als schön betrachten oder nicht.

Also entschloss ich mich, Europa an einer Vielzahl denkbarer Nichtorte zu betrachten, und siehe: es ist erstaunlich schön. Und oft sogar dort, wo es der normale Spaziergänger vielleicht nicht erwartet.

Ansonsten gibt es folgende Erkenntnisse:

  1. Das moderne Europa ist phantastisch gut erschlossen. Man kann nirgendwo ernsthaft verschollen gehen. Das ist ein großer Unterschied zu Texas oder Sibirien, Teilen von Afrika und Australien. Das hat etwas zu tun mit gutem Nahverkehr und funktionierenden Mobilfunknetzen.
  2. Man trifft auf ausnahmslos wohlgesonnene Menschen. Auch das ist ein Unterschied, z.B. zur Umgebung von Donezk oder (mit Verlaub) zu Ostsachsen. Hervorheben möchte ich Letizia, für die ich nach meiner Wanderung in Deutschland nach Orten recherchierte, an denen ihr Vater Zwangsarbeit verrichten musste. Hervorheben möchte ich Lucio, der sich nach einer kurzen Begegnung entschloss, einen Teil von Seumes „Spaziergang“ ins Italienische zu übersetzen, damit ihn alle seinen befreundeten Lehrer im Unterricht qualifiziert erwähnen können. Daraus haben sich zwei schöne Fernfreundschaften entwickelt.
  3. Alle diese Menschen sind durch eine vergleichsweise hohe Kultur, größtenteils sogar durch Bildung geprägt. Fast überall gibt es Museen, Theater und prächtige Häuser, gewidmet verschiedensten Göttern.
  4. Die Mehrheit dieser Menschen ist eben NICHT fremdenfeindlich. Das behaupte ich, obwohl ich kein wirklich Fremder bin in Europa. Und das behaupte ich auch angesichts erstaunlich bunt gekleideter Italiener, die allen Ernstes erklärten, sie hätten Meloni gewählt.
  5. Seume litt unter einer Verletzung des Fußes, was ihn daran hinderte, nach dem Spaziergang nach Syrakus gleich den nächsten großen Spaziergang zu machen. Bekanntlich wartete er eine Weile bis zum „Sommer 1805“. Ich wanderte los, obwohl mir gleich zwei Ärzte bescheinigten, dass ich damit ein großes Risiko einginge, denn mein linker Fuß sei längst Opfer einer fortgeschrittenen Arthrose.
  6. Ich ging los, auch weil ich wusste, dass ich bei einem medizinischen Notfall überall entlang meines Weges eine gute Versorgung hätte haben können. Auch dies ist ein europäisches Privileg. Und ich behaupte: es ist ein einzigartiges Privileg, weil in anderen Regionen dieser Erde die Medizinerdichte wesentlich geringer ist, die Standards dessen, was Mediziner/innen machen, oft niedriger sind oder deren Dienste schlicht unbezahlbar. Immerhin: mir blieb diese Form des Bekenntnisses zu Europa erspart. Alles, was mir unterwegs in medizinischer Hinsicht passierte, konnte ich als Do it yourself Hobbyarzt erfolgreich selbst therapieren.
  7. Während der ganzen Wanderung habe ich mich darüber empört, dass man als Fußgänger sehr weit oben steht in der Nahrungskette menschenfressender Autos. Vor allem in Italien und Tschechien gibt es kaum Fußwege neben oft stark befahrenen Straßen.

Man wird nicht nur an Kreisverkehren zu aberwitzigen Ausbeulungen seines Weges gezwungen. Ich ließ mich allerdings nicht immer verbiegen, sondern ging einfach die brutalstmögliche Gerade, trampelte zum Protest über mehr oder weniger gepflegtes Grün in der Mitte ebendieser Kreisverkehre, ignorierte die sinnlos blinkenden Ampeln an deren Peripherie.

Man muss in dramatisch langen Schwüngen Autobahnen und Eisenbahnlinien überqueren, so wie Seume früher die Flüsse. Meine Freundin, die Haarnadelkurve, will ich da gar nicht erwähnen…

Es stehen blöde Zäune herum, die jede noch so logische Abkürzung behindern. Es gibt Zäune auf Feldern, Wiesen, Brachen ja sogar am Strand. Aber das Schöne ist: es gibt keine Fürsten mehr, denen egal sein kann, was passiert, wenn sie irgendwo einen Zaun setzen. Ich kann mich ohne Befürchtung eines auch noch so geringen Nachteils bei Politikern aller Chargen beschweren über diese Zustände und Einrichtungen. Vorteile erwarte ich allerdings auch nicht unbedingt.

Aber Politiker, oder zumindest der Ausfluss deren Tuns, haben mich auch motiviert, Zäune niederzutrampeln. Ich hing mit einem Finger in den Maschen eines Zauns über der hohen steilen Böschung eines ernstzunehmenden Baches. Die Stiefel suchten Halt auf immer schmaler werdendem glitschigem Pfad. Hinter dem Zaun tobte die Autobahn, wenn auch in einiger Entfernung, vor mir strüppte immer dichter werdendes Gestrüpp – als plötzlich mein Telefon klingelte: ….

Es war das Bürgeramt Tempelhof-Schöneberg. Zum wiederholten Mal wollte man von mir Unterlagen zu einem gelegentlich vermieteten Zimmer, denn das ist in Berlin registrierungspflichtig. Geduldig aber frustriert hörte ich der Dame zu, folgte im Geiste der schier ewig langen Liste mit Belegen und Dokumenten, die ich einzureichen habe. Schließlich fragte ich nach ihrer Zimmernummer im Amt, welche sie verdutzt preisgab, und bat sie dann ins Nachbarzimmer, wo alle gewünschten Unterlagen seit Monaten liegen, bei einer Mitarbeiterin, die mir gegen eine Extragebühr bescheinigte, dass ich unter eine Befreiungsvorschrift falle.

Dieses Telefonat und meine daraus resultierende Wut hat der Zaun wenige Meter später nicht überlebt.

Seumes Weg lehrte mich auch anderes zu lieben: den Theokrit, den er mitschleppte, um ihn an der Arethusaquelle zu lesen, hatte ich in der Größe einiger Elektronen auf meinem Telefon, in mehreren Sprachen.

Das Überschreiten von Grenzen offenbarte sich für mich lediglich als leises Vibrieren eben dieses Telefons in der Hostentasche. Seumes Angst, beim Geldwechseln betrogen zu werden, hätte ich schlimmstenfalls in Tschechien nachempfinden können, wo es den Euro noch nicht gibt.

Wäre ich ausgeraubt worden – all meine verlustige Habe hätte ich aus fernster Ferne neu beschaffen können. Überall hätte es freundliche Polizisten gegeben, die mir wertvolle Ratschläge erteilt hätten. Und – nochmal das Telefon: es ersparte mir gemeinsam mit der Firma Google Seumes Mühe, zahlreiche Sprachen zu erlernen.

Also: geht Seumes Weg und beweist so Euer Vertrauen in das moderne Europa! Ehrt ihn, indem ihr seine Hoffnungen und Visionen genießt und zugleich seiner Mühsal praktisch, also gehend, gedenkt.